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nach arthur schnitzler
in einer überschreibung von anton schreiber

düsseldorfer schauspielhaus 2023

 

mit: alexandra lukas, thomas kitsche

ab sommer 24: sophie stockinger, thomas kitsche

regie: anton schreiber

bühne: susanne hoffmann

kostüm: juliane molitor

musik: marco girardin

dramaturgie: stijn reinhold

licht: jörg paschen

ton: eric brüggen

regieassistenz: anna ahlers

fotos: melanie zanin

Presse

Rheinische Post

Ein voller Erfolg. Was der junge Anton Schreiber aus dem »Reigen« seines berühmten Vorgängers Arthur Schnitzler gemacht hat, kann sich sehen lassen. Zwei Personen machen diesen anderthalbstündigen Abend zu einem Erlebnis: Alexandra Lukas beherrscht ihr Metier: vom Blaustrümpfchen bis zur Wanderhure, da ist alles drin, und zwar blitzschnell. Ihr Partner Thomas Kitsche zeigt sich nicht weniger wandlungsfähig. Diesen Theaterabend sollte man aus dem Keller nach oben holen. Vom Unterhaus des Düsseldorfer Schauspiels auf die Beletage, weil da mehr Zuschauer Eintritt fänden. Als Teaser könnte man zwei Fahrzeuge auf den Gründgens-Platz stellen: einen Oldtimer mit dem Kennzeichen "W-AS 1920" und ein E-Mobil mit "D-AS 2023". Denn was der junge Anton Schreiber aus dem "Reigen" seines berühmten Vorgängers gemacht hat, kann sich sehen lassen. Schreibers Inszenierung der über 100 Jahre alten Szenenfolge flüchtiger Intimitäten hält weit mehr Wiener Schmäh parat, als die Musik oder die Kostüme andeuten. Das Personal der zehn erotischen Begegnungen hat sich natürlich verändert, die Rollen sind teilweise auf den Kopf gestellt. Aus dem Original "Die Dirne und der Soldat" wurde "Der User und die Soldatin". Jetzt will die Frau schnell zur Sache kommen, der Zapfenstreich droht, während der vom Internet seiner erotischen Triebe beraubte Mann nicht richtig auf Touren kommt. Wie auch, wenn sein Lustobjekt in Tarnkleidung steckt, auf den Namen Leocadia hört und für die sexuelle Hast eine irre Begründung liefert: "Wer weiß, ob wir morgen noch's Leben haben." Das ist original Schnitzler, aber im visuellen Unterhaus-Kontext einfach zum Schießen. Dieser visuelle Kontext wird bestimmt durch das Bühnenbild von Susanne Hoffmann, vor allem aber durch Juliane Molitors Kostüme. Da ist alles drin, von abartig bis großartig, von Stanley Kubricks "Uhrwerk Orange" bis Georg Kreislers "Tauben vergiften im Park". Wie aber läuft das mit dem Sex im Düsseldorfer Unterhaus? Antwort: Am besten einfach hingehen.

Theater pur

Eine überzeugende Bearbeitung von Schnitzlers Reigen, der 1920 nach der skandalösen Uraufführung in Berlin und dem folgenden „Reigen-Prozess“ von ihm selbst mit Aufführungsverbot belegt wurde. Die Düsseldorfer Inszenierung holt den Liebesreigen (so der ursprüngliche Titel) aus dem Fin de siècle in die Gegenwart. Wer die Besetzungsliste anschaute, weiß, dass dieser Reigen von nur zwei Personen gegeben wird - und das, es muss vorweg gesagt sein, einfach hinreißend! In rasantem Rollenwechsel glänzt Alexandra Lukas als selbstbewusste Ehefrau, intelligente Influencerin, als überlegene Schauspielerin, die bei ihrem Auftritt im siebten Bild dem Autor und Regisseur kurzerhand das Heft aus der Hand nimmt, die Rollen austauscht und einen Crashkurs zu Gender, Sex und Machoverhalten abliefert. Während bei Schnitzler die Frauen eher die auf männliche Forderungen Reagierenden sind, macht Anton Schreiber - als Autor und Regisseur - sie in der Düsseldorfer Bearbeitung mit Alexandra Lukas zu Fordernden, bewusst Agierenden. Das weist den reagierenden Part dem enorm wandlungsfähigen Thomas Kitsche zu, der für seine Komik jede Menge Lacher erntet. Anton Schreiber und seinem Team gelingt es, durch klug veränderte Rollen und angepasste Sprache, Schnitzlers Skandalstück aus dem Jahr 1920 als überzeugende Komödie ins Heute zu holen. Was damals nach der Aufführung in Berlin als „Schmutz und Schund“ beschimpft zum größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts eskalierte, wurde in Düsseldorf begeistert beklatscht und bejubelt.

Düsseldorf aktuell

Im Untergeschoss des Düsseldorfer Schauspielhauses hat der junge Regisseur Anton Schreiber nun eine ganz neue, coole Version auf die Bühne gebracht. „Bitt’ schön, junger Herr?“ So redet heute halt kein Mensch mehr, oder wenn, dann nur im Wiener Kaffeehaus. Und die Standesunterschiede sind nicht an die Geburt, sondern an den Erfolg gekoppelt. Schreiber hat die Sprache angepasst, ohne sie gänzlich zu vulgarisieren. Er verschiebt die Geschlechterrollen geschickt, mischt die Verhältnisse, macht aus dem Soldaten eine Soldatin beim Online-Dating, tauscht Stubenmädchen, Graf, Dirne und das süße Mädel gegen heutige Typen wie die Influencerin, den Top-Manager, den Coach in Sachen Verführung (das nennt man Pickup-Artist) sowie ein Callgirl, das eigentlich Klimaaktivistin ist. Das Publikum amüsiert sich sehr. Alexandra Lukas und Thomas Kitsche bewältigen alle Rollen in skulptural-clownesken Kostümen (Juliane Molitor) und mit großem Vergnügen. Ihre Performance auf der von Susanne Hoffmann mit phallischen Säulen und Kugeln eingerichteten Bühne erinnert an die theatralischen Experimente im guten alten Bauhaus. Verspielt, aber mit strengen formalen Regeln. Der Geschlechtsakt, bei Schnitzler kunstvoll angedeutet, bleibt auch hier im Abstrakten und gleicht einem mechanischen Ballett. Bei allem Spaß lässt die Produktion keinen Zweifel daran, dass die Mechanismen von Anziehung und Abstoßung, Begierde und Enttäuschung zwischen Mann und Frau gleich geblieben sind. Auch versuchen die balzenden Herren immer noch, eine überlegene Position einzunehmen. Doch die Frauen wehren sich. Das wird besonders deutlich, als der verheiratete Chefredakteur die süße Influencerin verführen will, sie aber unbeirrt mit ihren Online-Selfies in der Selbstliebe verharrt. Das Schauspielerduo wechselt mühelos die ulkigen Verkleidungen und die Charaktere. Naiv oder herrisch, sanft oder zickig, grob oder kleinlaut. Einen raffinierten Reigen hat das junge Team in der intimen Atmosphäre des kleinen Werkstatt-Theaters im Kellergeschoss des eleganten Schauspielhauses inszeniert.

©2023 Anton Schreiber

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